Labor erleben | Interview

„Ich glaube, dass wir als Patienten immer den Arzt als Interface brauchen“

Ranga Yogeshwar über die Zukunft der Labordiagnostik

Das Interview führte Patricia Jaecklin
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Labor erleben Magazin des ALM e.V.: Ranga Yogeshwar im Interview

Ranga Yogeshwar zählt zu den führenden Wissenschaftsjournalisten Deutschlands. Er studierte Experimentelle Elementarteilchenphysik und Astrophysik und arbeitete am Schweizer Institut für Nuklearforschung (SIN), am CERN in Genf und am Forschungszentrum Jülich. Bekannt ist er aus zahlreichen TV-Sendungen und Talkshows. Seine Bücher sind Bestseller und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Als Keynote-Speaker auf der Fokusveranstaltung des ALM e. V. am 21. November 2022 im Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin sprach er über die Auswirkungen des medizinischtechnologischen Fortschritts auf unsere Gesellschaft und die Diagnostik.

Wir befinden uns in der Nationalgalerie der Gegenwart anlässlich der Fokusveranstaltung 2022 des ALM e.V. Wie würden Sie heute beschreiben, was in der Diagnostik als Nächstes passiert?

Ranga Yogeshwar: Was man sehr deutlich sieht, ist, dass wir in einer Zeit der Veränderung leben. Und diese Veränderung setzt sich fort! Wir haben Technologien, die sich verändern, die ständig im Wandel sind. Ein einfaches Beispiel sind die PCR-Tests, die seit der Coronapandemie den meisten Menschen ein Begriff sind. Die Polymerase-Kettenreaktion wurde von Kary Mullis in den 1980ern erfunden und patentiert. Sie ist heute eine Standardtechnik, was zeigt, wie schnell eine Technologie ins Labor und in den Alltag hineinkommt.

Diese Schnelligkeit werden wir in den nächsten Jahren noch viel stärker in allen Bereichen erleben, die von Digitalisierung geprägt sind. Es gibt immer mehr Maschinen, die in der Lage sind, komplexe Prozesse autonom zu durchlaufen. Solche Roboter sind nur möglich durch leistungsfähige Computerchips, durch eine immer bessere Software, zum Teil durch den Einsatz von KI-Algorithmen, wobei Letztere in vielen Bereichen eine immer wichtigere Rolle spielen.

Wir kommen insgesamt in eine Phase, die geprägt ist von immer besserer Technik, die uns beständig neue, immer komplexere Möglichkeiten eröffnet. In einigen Bereichen wird es zur Miniaturisierung kommen: Ein großer Laborapparat schrumpft plötzlich auf Chipgröße. Dadurch können ehemals sehr teure Untersuchungen erheblich kostengünstiger werden.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Trends in der Diagnostik?

Ein großer Trend mit dem Potenzial, enorme Fortschritte in der Medizin zu ermöglichen, zeichnet sich im Bereich der Bild- und Mustererkennung ab. So können KI-Algorithmen zum Beispiel auf Bildern Hautkrebs erkennen – das funktioniert schon ziemlich gut. Wir werden außerdem sehen, dass viele Tests, wie eine Blutuntersuchung, neben der spezifischen Suche automatisch sehr viel breiter analysieren werden, im Sinne eines Screenings, bei dem viele Daten erfasst werden. Langfristig gesehen werden wir im Bereich der Diagnostik nicht mehr nur „nasse Werte“, also Blut, Urin usw., untersuchen. Auch daran, wie ein Mensch geht, an seiner Stimme und seinem Aktivitätsmuster lässt sich einiges ablesen. Max Little vom MIT – inzwischen arbeitet er in Birmingham – forscht zum Beispiel daran, anhand der Stimme zu evaluieren, ob eine Person an Parkinson erkrankt ist.

KI-Algorithmen können außerdem an Abweichungen in Bewegungsmustern beim Gehen Hinweise auf neurologische Erkrankungen erkennen, und man ahnt gar nicht, was man über Gesichtserkennung ablesen kann: Hat eine Person ein Alkoholproblem, ist sie möglicherweise depressiv? Sogar genetische Krankheiten können erkannt werden. Wir kommen also dahin, dass Daten, die bisher in der Labormedizin keine Rolle gespielt haben, plötzlich anfangen, eine sehr wichtige Rolle in der Diagnostik zu spielen.

Was bedeuten diese Veränderungen für uns als Patienten?

Nie waren Patienten, wenn sie zum Arzt kommen‚ so gut informiert wie heute, denn sie haben Wissen – manchmal auch ein gewisses Halbwissen – aus dem Internet. In den nächsten Jahren werden außerdem immer mehr Patienten beginnen, sich zu Hause mithilfe von Apps selbst zu diagnostizieren. In der Folge wird es auch Ängste geben und Verunsicherung. Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen panisch werden, weil sie irgendeine scheinbare Veränderung an sich entdeckt haben, denn es ist schwierig, die Daten und Informationen richtig einzuordnen.

Worin sehen Sie die Rolle der Labore, wenn Patienten fragen: Was ist wichtiger und richtiger – das Ergebnis des Labors oder das, was die App mir jeden Tag sagt?

Die Labore werden damit konfrontiert werden. Denn wenn es darum geht, die Daten aus der App zu verifizieren, also einer ärztlichen Prüfung zu unterziehen, dann sind die Labore dran. Insofern wird es einen neuen Zustrom geben und eine Konfrontation mit Apps, die manchmal gut sind und manchmal vielleicht nicht. Aus der Pandemie kennen wir die Antigen-Schnelltests, die man zu Hause machen kann. Das ist aber nur eine erste Stufe, denn wir wissen alle, dass die Sensitivität und die Spezifität dieser Tests nicht so gut ist wie die der PCR-Tests, die in den Laboren durchgeführt werden. Im Labor können wir außerdem nicht nur sicher feststellen, ob die Person positiv oder negativ ist, sondern darüber hinaus eine genetische Typisierung des Virus machen, und wir haben gelernt, wie wichtig diese Einordnung ist.

Zusammenfassend kann man sagen: Es wird immer ein Wechselspiel sein zwischen einem ersten Hinweis – sei es durch einen Selbsttest oder die Information aus der App – und einer anschließenden Validierung, wenn notwendig, im Labor.

Welche Aspekte in der Labormedizin werden sich in den nächsten Jahren am dramatischsten verändern?

Die Diagnostik heute wird auf einen konkreten Verdacht hin angesetzt. Zukünftig wird uns die Diagnostik möglicherweise sehr viel mehr Antworten geben, als wir Fragen gestellt haben. Nehmen wir eine einfache Blutuntersuchung: Vermutlich werden wir in einigen Jahren in der Lage sein – aufgrund weiterentwickelter Technologie und der Tatsache, dass unsere Maschinen selektiver, kompakter und vielfältiger sind –, sehr viel mehr aus einem Tropfen Blut herauszulesen, als wir es heute tun. Möglicherweise kommen wir in eine neue Phase des Screenings, in der Labore machen, was kein Laie kann: einen diagnostischen Rundumblick mit vielen Facetten.

Führt uns das zu einer immer stärker individualisierten Diagnostik?

In den nächsten Jahren werden wir immer besser verstehen, dass eine Therapie bei einem Menschen funktioniert und bei einem anderen nicht. Wenn wir den Beipackzettel eines Medikaments betrachten, dann stellen wir fest, dass, getreu dem alten Bild der Medizin, differenziert wird zwischen Alter und vielleicht noch Körpergewicht. Wir lernen jedoch, wie unterschiedlich allein schon Männer und Frauen medizinisch gesehen sind. Es gibt viele klinische Studien, in denen das sehr genau untersucht wurde.

Ich glaube, das wird in den nächsten Jahren ohnehin ein Trend sein, nicht nur in der Labormedizin, sondern in der Medizin im Ganzen: sehr viel genauer hinzugucken, möglicherweise auch spezifisch für die Person.

In der Coronapandemie haben wir erlebt, wie skeptisch manche Menschen neuartigen Technologien in der Medizin gegenüberstehen.

Wenn Sie heute einen Impfstoff haben, dann fragt der medizinische Insider: Wie ist die Wirksamkeit dieses Impfstoffes? Mindestens genauso wichtig jedoch ist die Frage: Wie ist die Akzeptanz? Obwohl wir in der besten Zeit leben, was die Entwicklung von Impfstoffen und Therapien angeht, erleben wir, dass es zumindest einen Teil der Bevölkerung gibt, die diese aus den verschiedensten Gründen ablehnen. Es wird in den kommenden Jahren eine große Herausforderung sein, die Menschen mitzunehmen. Sonst kämen wir irgendwann in die absurde Situation, dass wir eine hervorragende Medizin haben, die aber von vielen Menschen nicht akzeptiert wird.

Wir müssen lernen, dass die Vermittlung auch dazugehört. Interessanterweise investieren wir zu wenig Geld, zu wenig Reflexion in diesen Bereich. Da sehen wir vielleicht ein bisschen zu viel in die Reagenzgläser und zu wenig in die Augen unserer Patienten.

Bewegt sich die Labormedizin ihm Zuge der technischen Entwicklung näher hin zum Patienten oder weiter weg?

Labormedizin ist im Grunde eine Domäne, die global funktionieren kann und in einigen Ländern oder Regionen wünschenswerterweise global funktionieren sollte, zum Beispiel dann, wenn ein Labor nicht vor Ort ist. Das ist ein großer Fortschritt. Röntgenbilder können Sie beispielsweise heute hochladen und virtuell irgendwo weit weg mithilfe von KI und Machine Learning interpretieren lassen. Sie bekommen ein Ergebnis zurück.

Aber der entscheidende Punkt ist: Der Arzt setzt sich dann vor Ort mit dem Patienten zusammen und bespricht mit ihm das Ergebnis. Ich glaube, dass wir als Patienten immer einen Menschen, nämlich den Arzt, als Interface brauchen, und die Frage nach möglichen Therapien obliegt am Ende ohnehin dem Arzt.

Herr Yogeshwar, vielen Dank für das spannende Gespräch.

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