ALM Aktuell 06/2023 | Zielgerichtet klug entscheiden

Labordiagnostische Pfade sind Empfehlungen und nicht verbindlich

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Laborärztliche Diagnostik ist von herausragender Bedeutung sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Patientenversorgung. Angesichts der Altersentwicklung in der Bevölkerung mit entsprechender Morbidität und durch den medizinischen Fortschritt wird ihre Bedeutung in Zukunft voraussichtlich weiter steigen – sowohl in Bezug auf die Quantität als die Komplexität. Bereits heute basieren bis zu 70 Prozent aller medizinischen Prozesse auf labormedizinischen Ergebnissen.

Prof. Dr. med. Jan Kramer

Die Deutsche Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin (DGKL) hat nach mehrjähriger Vorarbeit im Jahr 2012 erstmalig ein vielbeachtetes Fachbuch „Labordiagnostische Pfade“ herausgegeben (1), um dem diagnostischen Prozess in der Patientenversorgung eine sach- und fachgerechte Grundlage zu geben. Labordiagnostische Pfade können Ärztinnen und Ärzten im Zeitalter der vielfältigen Anforderungen und Entwicklungen eine Unterstützung bei der Diagnosefindung bieten, da sie stets die aktuellen Empfehlungen und Leitlinien berücksichtigen sollten.

Jeder, der mit klinischer Erfahrung am Patientenbett tätig ist und das Wohl des Patienten im Blick hat, weiß jedoch auch, dass ein „Pfad“ nur eine Orientierungshilfe und im Einzelfall keine Einschränkung der individuellen ärztlichen Entscheidung in Bezug auf Diagnose und Therapie sein darf. Auch macht es der sich ständig weiterentwickelnde medizinische Fortschritt notwendig, dass Ärztinnen und Ärzte mit Expertenwissen regelmäßig die Empfehlungen überprüfen. Keinesfalls darf ein digitaler Algorithmus die alleinige Verantwortung für die diagnostische Patientenversorgung tragen.

Fachärzte für Laboratoriumsmedizin erfüllen im interdisziplinären Arbeitsalltag auch ihre Verantwortung als „Lotsen“ bei der Beratung zu den diagnostischen Möglichkeiten im ärztlichen Dialog: Sie beraten persönlich bei speziellen Fragestellungen, welcher Test sinnvoll eingesetzt werden kann, und gewährleisten im Vier-Augen-Prinzip mit dem ärztlichen Veranlasser (Zuweiser) der Laborleistung eine sinnvolle Labordiagnostik. Gemeinsam wird so im Interesse einer zielgerichteten und effektiven Patientenversorgung klug entschieden und dabei eine Über- oder Unterversorgung möglichst verhindert. Laborärztinnen und -ärzte kommentieren die Laborergebnisse in ihren Befunden und unterstützen ihre klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen auch bei der Interpretation der Laborwerte. Dies trägt insgesamt zu einer sehr hohen Patientensicherheit in Deutschland bei.

Labormediziner sind auch wesentlich in wichtige Therapieentscheidungen involviert, wie zum Beispiel bei der Antibiotikaberatung. Daher können Laborwerte häufig eine wichtige Rolle in klinischen Behandlungspfaden spielen. Diese sind allerdings per definitionem von den labordiagnostischen Pfaden abzugrenzen. In beiden Fällen ist es jedoch wichtig zu betonen, dass einfache Entscheidungsbäume mit Ja/Nein-Optionen nicht den Eindruck einer hundertprozentigen Sicherheit erwecken dürfen.

Methodisch werden die Laborergebnisse zwar fachärztlich und in einer nachweislich sehr hohen Qualität erbracht, doch wie in jeder Wissenschaft liefern auch die labormedizinischen Ergebnisse in der Regel nur Aussagen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Selbst wenn beispielsweise in einer Stufendiagnostik jede einzelne Ja/Nein-Entscheidung zu 95 Prozent richtig ist, nimmt die Fehlerwahrscheinlichkeit mit jedem Schritt zu. Statistisch gesehen würde nach etwa 15 Schritten die Wahrscheinlichkeit einer Fehldiagnose bei 50 Prozent liegen – was einem Münzwurf gleichkäme.

Dies verdeutlicht, dass Algorithmen allein keine medizinische Entscheidung treffen sollten und es der ärztlichen Bewertung vorbehalten sein muss, ob eine Stufendiagnostik oder eine breitere Profildiagnostik entsprechend der Indikation gewählt wird. Auf diese Weise wird zielgerichtet und unter Beachtung eines möglichst raschen diagnostisch-medizinischen Prozesses gearbeitet.

Prof. Dr. med. Jan Kramer
„Ärztliche Beratung und der persönliche Dialog gehören zum Fachgebiet Laboratoriumsmedizin, sowohl innerhalb des Kollegiums im Labor als auch im Austausch mit den ins Labor einsendenden Praxen und Kliniken“, meint Prof. Dr. med. Jan Kramer (Bildmitte), Stellvertretender Vorsitzender des ALM e.V., als Internist und niedergelassener Laborarzt.

So ist es folgerichtig, dass die laboratoriumsmedizinische Stufendiagnostik zwar im Laborkompendium des Kompetenzzentrums Labor der KBV(2) aus dem Jahr 2014 mit einem eigenen Kapitel als „Empfehlungen“ vertreten ist, die ärztliche Freiheit in Bezug auf Diagnose und Therapie aber dadurch nicht eingeschränkt wurde.

Fachgesellschaften haben in der Vergangenheit bereits auf die Gefahr des Missbrauchs diagnostischer Pfade für rein ökonomische Zwecke, beispielsweise durch Medizincontroller oder Krankenversicherungen, hingewiesen. Im Interesse der Patientenversorgung muss dies ausgeschlossen bleiben. Mit den „Empfehlungen zur Labordiagnostik“ bietet die KBV seit 2022 den Praxen nun einen neuen Service an – mit dem eindeutigen Hinweis, dass diese nicht verbindlich sind.(3) Sie sollen Ärztinnen und Ärzte beim Einsatz von Laboruntersuchungen zur Diagnose und Therapiekontrolle von Erkrankungen unterstützen.

Laborfachärztliche Vertreter des ALM e. V. engagieren sich daher sehr gerne als ständige Mitglieder in der Kommission „Labordiagnostische Empfehlungen“, bei der verschiedene Fachgesellschaften und Berufsverbände einbezogen werden. Die Kommission unter Moderation des Kompetenzzentrums Labor der KBV setzt sich aus ständigen und indikationsbezogen hinzugezogenen Mitgliedern zusammen. Zu den ständigen Mitgliedern zählen Internisten, Hausärzte, Labormediziner und Mikrobiologen, die von ihren jeweiligen Berufsverbänden als fachärztliche Vertreter benannt wurden. Sie werden von Experten mit spezifischem Fachwissen für die jeweilige Indikation unterstützt.

Die Empfehlungen zur Labordiagnostik folgen einem konsentierten Schema und sind in Form einer Stufendiagnostik aufgebaut. Die erstellten Laborpfade bestehen aus einem grafischen Ablaufschema und einem erläuternden Text, wobei eine einheitliche Struktur beibehalten wird. Die inhaltliche Ausrichtung der Empfehlungen erfolgt auf Grundlage einer gemeinsamen Bewertung der aktuell vorliegenden Evidenz (themenrelevante Literatur) sowie praktischen Erfahrungen aus der vertragsärztlichen Versorgung.

  1. Hofmann W, Aufenanger J, Hoffmann G. Klinikhandbuch Labordiagnostische Pfade. Berlin, Boston: De Gruyter, 2012.
    https://doi.org/10.1515/9783110228731
  2. KBV: Laborkompendium. https://www.kbv.de/media/sp/Laborkompendium_final_web.pdf
  3. KBV: Labordiagnostik. https://www.kbv.de/html/labordiagnostik.php
Prof. Dr. Jan Kramer, Stellvertretender Vorsitzender und Sprecher der AG Versorgungsforschung des ALM e.V.
Prof. Dr. med. Jan Kramer Stellvertretender Vorsitzender
Prof. Dr. med. Jan Kramer ist Stellvertretender Vorsitzender des ALM e.V., Internist und niedergelassener Laborarzt.
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