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Fieses Erbe – hoher Cholesterinwert

Krank trotz schlank: Familiäre Hypercholesterinämie

Bernd Harder
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„Kinder von Patientinnen und Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie sollten spätestens bis zum 10. Lebensjahr untersucht werden, da für sie ein 50-prozentiges Risiko besteht, die krankheitsverursachende Mutation geerbt zu haben.“

Gar nicht so selten – aber ganz oft noch eine Unbekannte: Die familiäre Hypercholesterinämie ist wenig bekannt und stark unterdiagnostiziert. In Deutschland ist etwa eine von 200 bis 250 Personen betroffen. Das sind mehr als 270. 000 Menschen. Nur ein geringer Teil der Patienten (schätzungsweise 15 Prozent) weiß davon und wird adäquat behandelt.

Es sieht nach einem Rätsel aus. Der junge Mann, der für eine Routineuntersuchung in die Praxis kommt, ist 32 Jahre alt und meistens gesund. Die Blutdruckmessung zeigt erhöhte Werte an, die über mehrere Monate anhalten. Bei der weiteren Abklärung erlebt der Arzt eine Überraschung. Sein Patient weist einen LDL-Cholesterinspiegel auf, der weit über dem Richtwert von 116 Millilitern pro Deziliter Blut für gesunde Menschen mit niedrigem Herz-Kreislauf-Risiko liegt: 350 mg/dl. Das geht sogar noch über den „Alarmgrenzwert“ von 250 mg/dl bei Erwachsenen hinaus. Eine Ernährungsumstellung – weniger Fleisch, Fast Food und Fertiggerichte – bringt keine Besserung. Der LDL-Wert des 32-jährigen, bislang unauffälligen Patienten bleibt konstant im tiefroten Bereich.

LDL – das „schlechte“ Cholesterin

LDL-Cholesterin wird umgangssprachlich auch als „schlechtes“ Cholesterin bezeichnet. Der Grund dafür: LDL (Low Density Lipoprotein) verteilt Cholesterin im gesamten Organismus. Weil Cholesterin selbst nicht wasserlöslich ist, braucht es eine Mitfahrgelegenheit durch den Blutkreislauf an seinen Zielort. Dieses Transportvehikel ist das LDL: eine Verbindung aus Fett (Lipo) und Eiweiß (Protein). Es holt das Cholesterin an seinem Herstellungsort – in der Leber – ab und bringt den fettähnlichen Rohstoff zu den Körperzellen, die ihn über spezielle Bindungsstellen (LDL-Rezeptoren) aufnehmen. Dort erfüllt das Cholesterin lebenswichtige Funktionen, etwa beim Aufbau der Zellmembranen oder bei der Bildung von Hormonen.

Allerdings können unsere Zellen nur eine bestimmte Menge an Blutfetten verarbeiten. Neben LDL spielt daher auch HDL eine entscheidende Rolle im Fettstoffwechsel, umgangssprachlich „gutes“ Cholesterin genannt. HDL (High-Density Lipoprotein) schleust überschüssiges Cholesterin zurück in die Leber, wo es abgebaut und ausgeschieden wird. Deshalb ist ein gesundes Gleichgewicht zwischen LDL- (am besten niedrige Werte) und HDL-Cholesterin (am besten hohe Werte) so wichtig. Befindet sich zu viel LDL im Blut, kann sich die Substanz an den Arterienwänden ablagern – die gefürchtete „Gefäßverkalkung“ droht, die einen Herzinfarkt oder Schlaganfall nach sich ziehen kann.

Viele Herzinfarkte in der Familie

Bei einem ausführlichen Anamnesegespräch erfährt der Arzt wichtige Details aus der Familiengeschichte seines Patienten: Von zwei Brüdern und drei Schwestern haben ein Bruder und zwei Schwestern ebenfalls erhöhte Blutfettwerte. Der Vater starb im Alter von 67 Jahren an einem Herzinfarkt. Seinen ersten Infarkt hatte er mit 42 Jahren. Von den drei Schwestern und drei Brüdern des Vaters lebt nur noch sein Zwillingsbruder. Alle anderen Geschwister sind an Herzinfarkten gestorben. Der Großvater väterlicherseits starb bereits in jungen Jahren an einer unbekannten Ursache.

Dies alles könnte auf eine vererbte – also genetische – Ursache der hohen Cholesterinwerte des 32-Jährigen hindeuten. Auch das Labor weist in seiner Befundübermittlung darauf hin, dass der Patient möglicherweise an einer familiären Hypercholesterinämie leidet.

Unterdiagnostiziert und unterbehandelt

Schon in jungen Jahren können das Cholesterin und damit das Herz-Kreislauf-Risiko stark erhöht sein – symptomlos und unabhängig von Gewicht, Ernährung und körperlicher Verfassung. In der Regel werden diese Patienten nur zufällig entdeckt, zum Beispiel bei der Gesundheitsuntersuchung, die jedem gesetzlich Versicherten zwischen 18 und 35 Jahren einmal und ab 35 Jahren alle drei Jahre zusteht.

15 % der Fälle sind bekannt

Nur die wenigsten Anlageträger wissen von ihrer genetischen Prädisposition. Mehr genetische Tests für Betroffene würden es ermöglichen, späteren kardiovaskulären Risiken bei den Nachkommen schon im Kindesalter vorzubeugen, da alle Nachkommen mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent das Risikoallel erben werden.

Wenn der Bluttest im Labor einen LDL-Wert von über 190 Milligramm pro Deziliter Blut und einen hohen Gesamtcholesterinspiegel zeigt, sollte an eine genetische Ursache gedacht werden. Bestätigt sich dieser Verdacht, spricht man von einer familiären Hypercholesterinämie (FH). Das bedeutet, dass aufgrund von erblichen Faktoren („familiär“) zu viel („Hyper“) Cholesterin im Blut („ämie“) vorhanden ist.

Diese Erkrankung ist wenig bekannt und stark unterdiagnostiziert – aber keineswegs selten. In Deutschland ist etwa eine von 200 bis 250 Personen betroffen. Das sind mehr als 270. 000 Menschen. Nur ein geringer Teil der Patienten (schätzungsweise 15 Prozent) weiß davon und wird adäquat behandelt. Das ist fatal, denn Männer mit familiärer Hypercholesterinämie haben ein Risiko von 90 Prozent, für einen Verschluss der Herzkranzgefäße oder einen Herzinfarkt vor dem 60. Lebensjahr zu erleiden.

Für Frauen ist das Risiko etwas geringer: zirca drei von zehn erleiden ohne vorherige Warnzeichen oder körperliche Beschwerden ein kardiovaskuläres Ereignis, noch bevor sie 60 Jahre alt sind. Die genetische Erkrankung kostet unbehandelte Betroffene im Durchschnitt 20 Lebensjahre. Ungefähr fünf Prozent der Herzinfarkte bei unter 60-jährigen und bis zu 20 Prozent bei unter 45-jährigen Frauen und Männern werden auf FH zurückgeführt.

Genanalyse bringt Klarheit

Der Arzt des 32 Jahre alten Patienten beauftragt sein Labor mit einer molekulargenetischen Diagnostik. Dafür genügt eine Blutprobe. Diese Untersuchung ist eine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen. Sie erfordert keine genetische Beratung durch eine speziell qualifizierte Fachkollegin oder einen Fachkollegen aus der Humangenetik und belastet nicht das Laborbudget der Praxis. Nach wenigen Tagen liegt das Ergebnis vor. Tatsächlich kann eine vererbte Mutation des LDL-Rezeptors, die die Aufnahme von LDL-Cholesterin aus dem Blut in die Körperzellen stört, sicher nachgewiesen werden.

Mutation im Gen des LDL-Rezeptors

LDL-Rezeptoren befinden sich auf nahezu allen Zelltypen, da sie die Versorgung der Körperzellen mit Cholesterin gewährleisten. Die Ursache für eine familiäre Hypercholesterinämie ist in den meisten Fällen eine Veränderung der Erbinformation, die den Bauplan für den LDL-Rezeptor enthält: das LDL-Rezeptor-Gen. Darüber hinaus gibt es noch zwei weitere Gene, deren Mutationen zu einer FH führen.

Stimmt die Konstruktionsanleitung für den LDL-Rezeptor auf dem Chromosom 19 nicht ganz genau, werden die Bindungsstellen generationenübergreifend falsch nachgebaut, was verschiedene Funktionsstörungen zur Folge hat. Beispielsweise wird der Abbau der LDL verlangsamt. Oder es werden zu wenige LDL-Rezeptoren ausgebildet. Oder die LDL-Rezeptoren erkennen die Fette im Blut nicht, sodass LDL-Cholesterin nur teilweise oder gar nicht in die Zellen gelangt.

Zwar ist jedes Gen zweifach vorhanden: eine Kopie von der Mutter und eine vom Vater. Und in der Regel ist nur eines der beiden Gene mutiert und das andere gesund. Dieser Fall wird als heterozygote (ungleicherbige) Form der FH bezeichnet. Aber bereits ein verändertes Gen (entweder von Vater oder Mutter vererbt) reicht aus, um zu erkranken. Zudem wird der Gendefekt „autosomal-dominant“ an die Hälfte der Nachkommen weitergegeben. Die homozygote (reinerbige) Form der familiären Hypercholesterinämie mit zwei veränderten Genen für den LDL-Rezeptor ist dagegen sehr selten – und eine schwere Erkrankung mit kardiovaskulären Ereignissen oft schon im jugendlichen und jungen Erwachsenenalter.

Eine frühe Diagnose und Behandlung kann Folgeerkrankungen der familiären Hypercholesterinämie deutlich reduzieren.

Frühe Diagnose ist lebensentscheidend

Des Rätsels Lösung – extrem hohe Cholesterinwerte ohne äußerlich ersichtliche Ursachen – war also eine erblich bedingte Störung des Fettstoffwechsels. Genauer gesagt: eine heterozygote familiäre Hypercholesterinämie. Die vergleichsweise frühe Abklärung dieser genetischen Erkrankung erwies sich für den 32-Jährigen als lebensentscheidend. Eine deutliche Senkung des kardiovaskulären Risikos ließ sich mit einer Statintherapie und Lebensstilmaßnahmen (Ernährung, Sport etc.) erreichen.

Schutz der Kinder und Kindeskinder

Ebenso wichtig ist es aber, die nachfolgenden Generationen, die Kinder und Enkel der Patienten, vor den möglichen schwerwiegenden Folgen einer FH zu schützen. Denn Menschen mit einer FH haben oft bereits von Geburt an eine gefährlich hohe Menge LDL-Cholesterin im Blut. „Kinder von Patientinnen und Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie sollten spätestens bis zum 10. Lebensjahr untersucht werden, da für sie ein 50-prozentiges Risiko besteht, die krankheitsverursachende Mutation geerbt zu haben“, appelliert Dr. Berit Kerner, Fachärztin für Humangenetik bei der Bioscientia Ingelheim.

Therapeutisch stehen dann zunächst nicht medikamentöse Maßnahmen wie eine Ernährungsumstellung im Vordergrund. Ab dem achten Lebensjahr können auch Statine eingesetzt werden. Kerner: „Eine frühe Diagnose und Behandlung kann Folgeerkrankungen der familiären Hypercholesterinämie deutlich reduzieren. Daher sollte Verwandten ersten und zweiten Grades einer betroffenen Person die Bestimmung der Blutfette, insbesondere des LDL, und bei erhöhten Werten auch eine moderne Genanalyse angeboten werden.“

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Familiäre Hypercholesterinämie

  • Autosomal dominant erbliche Störung des Fettstoffwechsels
  • Extrem erhöhte Serumspiegel des Low-density Lipoproteins C (LDL-C) schon im Kindes- und Jugendalter
  • Frühe und vermehrte Bildung von atherosklerotischen Plaques in den Herzkranzgefäßen und in der herznahen Aorta und damit ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte
  • Erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Folgeerkrankungen, einschließlich des Schlaganfalls
  • Weitere Symptome: Cholesterinablagerungen (Xanthome) in der Haut, besonders an den Augenlidern und entlang der Sehnen an den Hand- und Fußgelenken sowie den Ellenbogen- und Kniegelenken, Augenveränderungen (Arcus lipoides)
  • Männer bis zu einem Alter von 50 Jahren haben ein Risiko von 50 Prozent, einen Verschluss der Herzkranzgefäße oder auch einen Herzinfarkt zu erleiden
  • Für Frauen ohne medikamentöse Behandlung ist das Risiko etwas geringer und wird mit 30 Prozent bis zum Alter von 60 Jahren angegeben (Slack 1969, Stone et al. 1974, Civeira 2004, Goldberg et al. 2011, Reiner et al. 2011)
  • Häufigkeit in der Bevölkerung: 1 : 200 bis 1 : 250 Personen
  • Ungefähr 2 bis 3 Prozent der Herzinfarkte in dem Personenkreis unter 60 Jahren werdenauf diesen Risikofaktor zurückgeführt
  • In ungefähr 70 bis 95 Prozent der Fälle mit einer familiären Hypercholesterinämie lassen sich heterozygote krankheitsverursachende Mutationen in einem der drei Gene APOB, LDLR und PCSK9 nachweisen
  • Mutationen, die auf beiden Allelen des Genes liegen, also homozygote oder compound-heterozygote Mutationen, führen zu schweren kardiovaskulären Ereignissen oft schon im Alter von 20 oder 30 Jahren
  • Schwere oder sogar tödliche kardiovaskuläre Ereignisse bei Jugendlichen mit diesen genetischen Veränderungen, und damit auch die Notwendigkeit für Bypassoperationen schon im Jugendalter, sind nicht selten
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